Technik, die Nutzergruppen zu ihrem kritischem Gebrauch anregt
Manfred F. Moldaschl, Christian Traubinger
Gestaltungsoptionen, Regeln und Regulierungen in virtuellen Communities at INFORMATIK 2011 - Informatik schafft Communities
Berlin 2011
Berlin 2011
Abstract: Nutzerbedürfnisse und Nutzungsweisen sind, das hat auch die neuere Innovationsforschung gezeigt, schwer zu antizipieren. Diese Erkenntnis mündete einst in das Konzept des Rapid Prototyping - ein neues Konzept der Interaktion von Software-Entwicklern und Anwendern. Sie findet sich neuerdings in Konzepten der user-driven innovation wieder, die mit Methoden wie dem crowd sourcing wiederum einen (relativ) neuen Modus der Interaktion von Entwicklern und Anwendern etablieren. Es geht hier um offene und flexible Entwicklungsstrategien, die Entwicklern bzw. Produktanbietern zugleich große Vorteile der Akzeptanz sowie Chancen einer mehr oder weniger kostenlosen Aneignung fremden Wissens bieten.
Ob dies gelingt, ist an viele Voraussetzungen und Durchführungsbedingungen gebunden. Das Beispiel des Wissensmanagements bzw. entsprechender Wissensmanagementsysteme zeigt das deutlich: der Zyklus von hochfliegenden Erwartungen bzw. Verprechungen und äußerst ernüchternden Ergebnissen wurde mittlerweile mehrfach durchlaufen (nach Prusak wird derzeit die dritte Generation solcher Systeme angeboten). Es existieren zahlreiche Barrieren, die Benutzer ganz anders handeln lassen als sich Entwickler und Systembetreiber das vorgestellt haben. Die reine Portierung von Geschäftsprozessen auf das Internet löst nicht die grundlegenden Probleme der Kooperation, des Wissensaustauschs und der Kodifizierung, des Vertrauensaufbaus, der kontraintentionalen Nutzung, und so fort. Ohne ein so-zialwissenschaftliches Verständnis der sozialen Prozesse, die mittels Software unterstützt, werden sollen - rationalisiert oder qualitativ verbessert - wird die Softwareentwicklung immer wieder in solche Sackgassen laufen.
Ausgehend von einem Ansatz sozialwissenschaftlicher Technikkritik und der Analyse sozialen Lernbarrieren arbeiten wir an Prinzipien der Softwareentwicklung (bzw. generell der Technikentwicklung), die keiner der herrschenden Logiken folgen. Weder der Top-Down-Logik, die einen bestimmten Nutzen antizipiert, um diesen in technischen Funktionalitäten zu operationalisieren - woraufhin sie immer wieder durch Ablehnung oder unvorhergesehene Nutzungsweisen überrascht wird. Noch der ,,alternativen", partizipationistischen Bottom-Up-Logik, die sich nur als Übersetzung und technischen Vollzug divergierender Nutzerwünsche versteht - und die über Patchwork kaum hinauskommen kann. Auch die nahliegende Idee des ,,Beides", des ,,Dritten Weges", des Kreislaufs etc. ist nicht unser Thema - das ist schlicht selbstverständlich.
Unser Thema ist die Frage, wie sich Menschen einer Technik bedienen können, die sie nicht von ihr abhängig macht, sondern sie ihr gegenüber emanzipiert. Wie Technik die Menschen in die Lage versetzt, kritischen (souveränen) Gebrauch von einer Technik zu machen. Das wiederum impliziert die Frage, wie diese Technik gestaltet werden muß, damit sie das leisten kann; welche Leitbilder und Leitlinien die Technikentwicklung so inspirieren können, daß die Produkte das leisten. Ohne Partizipation werden die besten Leitbilder kein sinnvolles Produkt generieren können. Aber ohne solche Leitbilder, Prinzipien oder Prämissen wird Partizipation oder user-integration (oder wie immer das grade benannt wird) mit hoher Wahrscheinlichkeit in Sozialtechnologie und Akzeptanzbeschaffung münden - wenn das nicht ohnehin beab-sichtigt ist. Eine Technik freilich, die Nutzergruppen zu ihrem kritischem Gebrauch anregt, wiederspricht wohl den meisten Entwicklerintentionen - gleich, welcher der beiden Logiken.
Solchen Fragen gehen wir in verschiedenen Anwendungsprojekten nach, derzeit bei Soft-ware für das Ideenmanagement und das Projektmanagement.
Hier richtet sich unsere Modellierung von Kommunikations- und Geschäftsprozessen nicht - wie in klassischen Ansätzen teamorientierter PM-Software auf die Erfassung, Verfolgung und Auswertung planungsorientierter Kenngrößen wie Zeitfenster, Ressourcenkapazitäten und Finanzbudgets, sondern bietet den Projektakteuren ergänzend die Möglichkeit, die Planbar-keit und Plausibilität der genannten Variablen selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Sie richtet sich nicht auf modernes Datenbank-Scripting, sondern auf Nutzerinte-ressen an einer Modellierung gemeinsamer Wissensobjekte in Arbeitsgruppen. Wir suchen nicht vorrangig nach Möglichkeiten der Objektivierung von Entscheidungsalternativen durch Kennziffern - wie es einem vorherrschenden Nutzenkonzept von Projektleitung oder Ge-schäftsführung entspricht, sondern nach Möglichkeiten, wie Projektteams mit minimalem Aufwand eine möglichst treffende Selbstbeschreibung ihrer aktuellen Situation anfertigen können. Sind die Aktivitäten im Plan? Die Prioritäten richtig gesetzt? Und ist die Tendenz positiv oder negativ?
Ein solcher Ansatz kann und will das klassische Vorgehen bei der Abbildung von Unterneh-mensprozessen und -planungen nicht vollständig ersetzen, sondern durch die Möglichkeiten der Zielreflexion, der Modellierung von Projekthistorie, durch Visualisierung von Enbtscheidungsräumen etc. zu ergänzen. Die technische Modellierung solcher zwischen-menschlicher ,,Effekte'' gestaltet sich umso schwieriger, da die Dynamik in einer Gruppe über die Zeit schwanken kann und sich neue, indirekte oder gar kontraintentionale Nutzerstrategien herausbilden können, die der eigentlichen Erwartung entgegenwirken. Die Identifikation, Deu-tung und die anschließende Kompensation/Eliminierung solcher Effekte sehen wir mit als zentrale Aufgabe einer reflexiven Softwareentwicklung. Sie weist auch Bezüge auf zu Ideen einer kontextuellen Informatik (R. Keil).
Die Funktionalität eines ergänzenden Team-Monitorings für das Projektmanagement haben wir im Rahmen eigener Forschungsarbeiten bereits als Web2.0-Tool praxisgerecht realisiert. Eine empirische Untersuchung und Fallstudienanalyse kann mit interessierten Partnern jederzeit durchgeführt werden.