Die gängigen Erklärungen zu “Was ist Informatik?” – etwa von der Gesellschaft für Infomatik, der TU Dresden, oder auf Wikipedia – machen es einem schwer, sich dafür zu interessieren. Als Professor der Informatik kann ich mich selbst kaum damit identifizieren. Zu finden sind Aussagen wie “Das Wort Informatik setzt sich aus den Wörtern Information und Automatik zusammen”; es geht um “systematische, automatisierte Verarbeitung von Informationen”, um “systematische Darstellung, Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Daten”. Solche Beschreibungen scheinen mir engstirnig und rückwärtsgewandt.

Dabei ist das Gebiet der Informatik momentan eines der faszinierendsten Gebiet überhaupt! Viele der spannendsten Erfindungen und Entdeckungen unserer Zeit kommen aus der Informatik. Die Methoden der Informatik revolutionieren die Fortschritte in der Medizin, Biologie, Klimaforschung, Chemie, etc. Nicht nur auf technologischer, sondern auch auf intellektueller Seite spielt die Informatik mittlerweile eine wichtige Rolle: Wie wir unsere Welt, unsere Gesellschaft und uns selbst verstehen wird maßgeblich von computationalen Modellen und neuen wissenschaftlichen Herangehensweisen der Informatik geprägt. Ja, der im deutschsprachigen Raum gängige Begriff “Informatik” kommt aus einer anderen Zeit und bedeutet wörtlich genommen automatisierte Informationsverarbeitung. Aber diese tradierte Sicht wird der modernen Informatik nicht gerecht.

Hier also eine andere Sichtweise. Insbesondere eine, die die Informatik als Wissenschaft sieht, und wir als erstes diskutieren Was ist eine Wissenschaft? (Auf Engl. fiel mir eine konzise Definition zunächst einfacher.)

Sciences aim to describe the world. In particular, all things that exist, as well as all things that could possibly exist. Things that exist include things we find in nature, matter, molecules, life, art, history, language, but also existing machines, algorithms, technology. But science often also aims to describe all things that could possibly exist – e.g., all possible elementary particles (predicting which particles could be discoverd by new experiments), all possible mathematical theorems, all possible molecules, all possible forms of life, all possible political systems, but also all possible forms of art or future technology that is yet to be discovered, or rather is being discoverd in the process of describing its possibility.

Die Wissenschaften versuchen die Welt zu beschreiben. Insbesondere alle Dinge, die existieren, sowie alle Dinge, die möglicherweise existieren könnten. Existierende Dinge sind solche, die wir in der Natur finden, Materie, Moleküle, Leben, Kunst, Geschichte, Sprache, aber auch existierende Maschinen, Algorithmen, und Technologie. Aber die Wissenschaften wollfen oft auch beschreiben, was existieren könnte: z.B. alle möglichen Elementarteilchen (Vorhersage, welche Teilchen durch neue Experimente entdeckt werden könnten), alle möglichen mathematischen Theoreme, alle möglichen Moleküle, alle möglichen Formen des Lebens, alle möglichen politischen Systeme, aber auch alle möglichen Formen der Kunst oder zukünftiger Technologie, die erst noch entdeckt werden muss, oder vielmehr durch den Prozess, ihre Möglichkeit zu beschreiben, entdeckt wird.

Das Beschreiben von Dingen ist hier zentral. Etwas in der Natur zu verstehen, oder etwas neues zu erfinden, bedeutet es zu beschreiben. Klassisch wird zwischen den Naturwissenschaften und den Ingenieurswissenschaften unterschieden, wobei erstere sich mit existierenden Dingen der Natur, und letztere mit von Menschen erfundener Technologie beschäftigen. Die obige Sichtweise auf Wissenschaften will diese Unterscheidung bewusst überwinden, was insbesondere für die Informatik Sinn macht, da die Grenze zwischen informatischer Beschreibung natürlicher Prozesse und neuer Technologie fließend ist.

Oft wird gesagt, dass die wissenschaftlichen Disziplinen sich darin unterscheiden, was sie beschreiben wollen: Die Physik die mikoskopische Materie, die Biologie das Leben, die Geisteswissenschaften die Kultur, etc. Aber ehrlicher Weise muss man sagen, dass die wissenschaftlichen Disziplinen sich vorallem darin unterscheiden wie sie die Dinge beschreiben, also mit welchen Methoden und Konventionen. Der Physiker kennt sich gut mit Differentialgleichungen aus, und wird seine Methoden gerne auf alles anwenden, wenn es sich publizieren lässt. Der Hammer sucht sich hier den Nagel; und die wissenschaftlichen Disziplinen definieren sich stark über den Hammer und suchen sich gerne auch interdisziplinär Nägel. (Ja, die disziplinären Methoden sind historisch durch die Auseinandersetzung mit bestimmten Problemen entstanden.)

Die Informatik als wissenschaftliche Disziplin lässt sich besser anhand der Methode beschreiben, also anhand des wie anstatt des was: Die Methode ist das algorithmische, das informations- und daten-basierte Modell.

Computer Science is the science that aims to describe the world using algorithmic, information- and data-based models.

Die Informatik ist die Wissenschaft, die die Welt mit Hilfe von algorithmischen, informations- und daten-basierten Modellen zu beschreibt.

Diese Sicht auf die Informatik ist grundlegend anders als die klassische Reduktion “Informatik=automatische Informationsverarbeitung”. Hier 2 Punkte:

  1. Die Informatik ist eine Wissenschaft, die vieles beschreiben kann – natürlich auch die klassischen IT-Systeme, aber potenziell eben auch alles andere in unserer Welt: Biologische Prozesse, Klimaprozesse, Kultur, Kunst, industrielle Prozesse, politische Systeme, Kognition, etc, was gelegentlich als Computational X bezeichnet wird. Was die Informatik ausmacht ist wie sie solche Dinge beschreibt, nämlich algorithmisch, informations- und datenbasiert. Und wieder kann sie einerseits existierende Prozesse beschreiben, oder neue Systeme erfinden in dem sie mögliches beschreibt. Selbst der Prozess des Erfindens beispielsweise von Kunst kann in der KI algorithmisch beschrieben werden. Das Wesen der Informatik liegt vielmehr in Ihrer Methodik wie sie die Dinge beschreibt, mit wenig Grenzen was sie beschreiben kann.

  2. Der Informatiker erscheint manchmal als der Ausführende, derjenige, der die Modelle die andere ersonnen haben implementiert, der vorgegebene Verarbeitungsprozesse automatisiert (die schlimme Idee der “Digitalisierung” der alten Prozesse). In der obigen Sicht dreht sich dies jedoch um: Der Informatiker kann sich Modelle von biologischen oder physikalischen Prozessen ausdenken, die für Biologen und Physiker alleine unzugänglich sind, nämlich rein algorithmisch und daten-basiert, anstatt materialistisch/reduktionistische. Der Informatiker kann algorithmische Prozesse erfinden, die vollkommen andersartig funktionieren als klassische Verabreitungsprozesse.

Was genau bedeutet eine algorithmische, informations- und daten-basierte wissenschaftliche Herangehensweise? Von den klassischen Naturwissenschaften sind wir es gewohnt, die Natur mit materialistischen Begriffen wie Masse, Materie, Elementarteilchen, Kräfte, Felder zu beschreiben. Diese Begriffe sind konsistent zu unserer Wahrnehmung der Umwelt in Form von Dingen, Sachen und Lebewesen. Sie sind materialistisch und versuchen die “tatsächlichen”, fundamentalen Gesetze und Prozesse der Natur reduktionistisch zu beschreiben.

Aber man kann auch einen anderen wissenschaftlichen Zugang zur Beschreibung der Natur verfolgen, nämlich einen der alles als Information betrachtet: Der momentane Zustand um uns herum ist Information. Die ständige Änderung des Zustands ist Information. Alles um uns herum – die Zustände der Atome, die Signale, die Interaktionen, das Licht, die Bewegungen, die Laute, die Musik, die Gespräche, die Kultur, die Börsenkurse, das Wetter – alles Information. Die Informatik ist diese Wissenschaft, die alles als Information betrachtet. Prozesse sind “Transformation” der Information, die als Algorithmen beschrieben werden. Das kann man “Informationverarbeitung” nennen – aber hier geht es nicht darum, dass ein Sekretariat Briefe einscannt, sondern dass alle Prozesse unserer Welt als Informationprozesse verstanden werden können. Die Informatik versucht unsere Natur, Kultur und Technologien auf dieser Basis zu verstehen, zu beschreiben und zu erfinden. Die Informatik ist in dem Sinne eine universelle Wissenschaft – vllt universeller als jede bisherige Wissenschaft, weil sie im Gegensatz zur Physik, Biologie, Chemie, Medizin, Geisteswissenschaften, etc. sich auf viele Skalen und Bereiche von Natur, Kultur und Technologien anwenden lässt – und damit in gewisser Weise in Konkurenz zu traditionellen Fakultäten steht. Sie kann als parallel zur Mathematik angesehen werden, erweitert aber die wissenschaftliche Methodik in dem Modelle nicht nur analytisch beschrieben werden, sondern auch daten-basiert und algorithmisch.

Der Kontrast zu klassischen Wissenschaften wird bei modernen daten-basierten Methoden besonders deutlich: In daten-basierten Modellen ist die Semantik dessen, worum es geht, vollkommen egal, und auch ein “Verständnis” der Prozesse im reduktionistischen Sinne ist egal. Stattdessen geht es darum, dass Information in Form riesiger Datenmengen vorhanden ist, und diese Information genutzt werden soll, um Vorhersagen zu treffen – ohne Umwege über evtl. Semantik oder reduktionistische Gesetze – sondern als direkte Transformation von Information. Dieses Paradigma stößt der klassischen Auffassung von Wissenschaft vielleicht an den Kopf. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass dieser Ansatz erfolgreich ist und momentan in vielen Gebieten der Wissenschaft erstaunliche Fortschritte ermöglicht.

Diese Informations-basierte Sicht auf unsere Welt, die die Semantik und materielle Natur der Dinge außen vor lässt und Prozesse auf Basis von Information versteht, ist der menschlichen Denkweise womöglich fremd. Wir Menschen wurden durch die Evolution für eine spezifische biologische Niesche geschaffen, in der die Ziele, die Rolle des Physischen, und der Zugriff auf Information ganz anders geartet ist, als die heutige globale Informations- und Datenlage und heutigen Ziele der Wissenschaft und Technologie. Mit dem Erkenntnisvermögen, dass uns die Evolution mitgegeben hat, haben wir klassische Naturwissenschaften gegründet, die auf materialistischen Begrifflichkeiten und der semantischen Sicht der Welt aufbauen. Die Informatik bietet jedoch neue wissenschaftliche Ansätze, die durch die heutige Datenlage und Rechenkapazität möglich werden.

Die hier skizzierte Sicht auf die Informatik ist sicher sehr subjektiv und wird kaum Konsens unter Informatikern finden. Das ist auch nicht der Punkt. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, dass man unter “Informatik” so viel mehr verstehen kann, als “automatisierte Informationsverarbeitung”, in der Informatik viel Faszinierendes sehen kann, natürlich aus technologischer, aber auch aus wissenschaftlicher und intellektueller Sicht.