Berlin
Technische Universität Berlin Gesellschaft für Informatik e.V.
41. Jahrestagung, Gesellschaft für Informatik e.V. (GI), Berlin

Manfred Broy, Technische Universität München

Informatik als wissenschaftliche Methode: Zur Rolle der Informatik in Forschung und Anwendung

Abstract
Jede Anwendung der Informatik in einer Anwendungsdomäne erfordert unwillkürlich eine Erschließung von Teilen der Domäne mit Modellierungsmitteln der Informatik. Entsteht eine Anwendung ohne explizite Modellbildung im Wesentlichen durch Programmierung wie bei den agilen Vorgehensweisen, bleiben diese Modelle implizit. In jedem Fall findet aber, implizit oder explizit eine Modellbildung für einen Ausschnitt der Anwendungsdomäne mit Mitteln der Informatik statt. Diese Modellierungsmittel der Informatik sind grundlegend digital, stützen sich auf diskrete Strukturen der Datenmodellierung, auf Taxonomien und Ontologien, auf logische Strukturen, auf Konzepte wie Zustandsmaschinen und diskrete Prozesse. Dann stellt sich die Frage, welches domänenspezifische, fachliche Wissen in Programmen enthalten ist und wie dieses gegebenenfalls zu extrahieren ist.
 
Mit den Modellierungsmitteln der Informatik ergibt sich eine völlig neuartige Methode, Gegenstände, Themen und Zusammenhänge durch Modelle zu erschließen. Dabei wirken mehrere Effekte zusammen. Einmal können die digitalen Modellierungsansätze der Informatik die Zusammenhänge in den unterschiedlichen Anwendungsgebieten nicht nur mit Mitteln der Logik erfasst, sondern auch einer Behandlung durch Rechenverfahren wie der Simulation oder automatische Deduktion zugänglich gemacht werden. So schafft die Informatik mit ihren Ansätzen zur Darstellung von Systemen und Prozessen, wie sie im Bereich der Modellierung von Programmen und Softwaresystemen entstanden sind, durch völlig neue Sichten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Möglichkeiten ingenieurmäßiger Anwendungen. Neuartige Systembegriffe entstehen. Forschungsarbeiten zur Verknüpfung von klassischen Sichten auf Systeme durch kontinuierliche Funktionen werden verbunden mit diskreten Modellen von Systeme als Zustandsmaschinen, Architekturen von Teilsystemen mit Begriffen wie Schnittstelle und Interaktion.
 
Letztendlich bieten sich auf dieser Basis völlig neue Möglichkeiten im Sinne einer wissenschaftlichen Methode, in den USA auch als „Computational Thinking“ bezeichnet, mit ganz eigenen Vorgehensweisen zur Modellierung komplexer Systeme. Beides in Verbindung eröffnet einzigartige Wege in Forschung und Anwendung. Eine umfassende Anwendung dieses Ansatzes führt beispielsweise in die Richtung virtuelles Entwickeln („Virtual Engineering“), bei der der gesamte Entwicklungsprozess komplexer Systeme aus Mechanik, Elektronik und Software bis hin zur Gestaltung der Produktion und Wartung vollständig im Rechner geplant, ausgearbeitet und gesteuert wird.
 
Dabei ist Informatik als wissenschaftliche Methode mehr als „algorithmisches Denken“ (ein Übersetzungsversuch zu „Computational Thinking“). Gerade der Prozess der Modellierung und Formalisierung einer Problemstellung oder eines Zusammenhangs schafft Einsichten und Perspektiven, aber auch die Voraussetzung für die Entwicklung und Anwendung von Algorithmen, die dann allerdings einen entscheidenden Mehrwert für Informatik als wissenschaftliche Methode liefern.

Kurzbiographie
Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Hans Bertold Broy ist ordentlicher Professor für Informatik am Institut für Informatik der Technischen Universität München. Das Leitthema seiner Forschungsarbeiten ist die Beherrschung der Beschreibung und Entwicklung komplexer Softwaresysteme auf wissenschaftlicher Grundlage durch den Einsatz wohldurchdachter Prozesse, langlebiger flexibler Softwarearchitekturen und moderner Werkzeuge auf Basis mathematischer und logischer Methoden. Zielsetzung ist eine Fundierung und Weiterentwicklung der Methoden der Softwaretechnik mit Schwerpunkten auf Qualitätssicherung und modellbasierter Entwicklung.
Im Jahr 1994 ist Professor Broy mit dem Leibniz Preis, dem höchsten Wissen­schafts­preis der Bundesrepublik Deutschlands, ausgezeichnet worden. Im Frühjahr 1996 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. 2003 erhielt Professor Broy den Doktor honoris causa durch die Fakultät für Mathematik und Informatik der Universität Passau. 2007 erhielt er die Konrad-Zuse-Medaille für besondere Verdienste um die Informatik.
Professor Broy ist Max-Planck-Fellow, Mitglied der Akademie der Technikwissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina“.